Losgelassenheit fängt beim Reiter an

Von Arlette Magiera

Quelle: Bookazin "Feine Hilfen" Ausgabe 7

Ist der Reiter nicht losgelassen, verspannt sich auch das Pferd. Oft können bereits geringe Veränderungen viel bewirken: etwa die bewusste Steuerung des Blicks oder die Entspannung des Kiefers. Centered Riding Instruktorin Arlette Magiera gibt hilfreiche Praxistipps. Fragt man Pferdeleute, was sie unter dem Begriff Losgelassenheit verstehen, folgen unterschiedlichste Erklärungen zum Wesen oder Verhalten des Pferdes oder dazu, dass die Losgelassenheit Teil der Ausbildungsskala der traditionellen Dressurreiterei ist. Ein Faktor bleibt dabei aber sehr oft unerwähnt: Der Reiter und sein Einfluss auf die Losgelassenheit des Pferdes. Doch: Möchte er, dass sein Pferd losgelassen geht, muss er selbst losgelassen sein.

Die Reiterin sitzt losgelassen mit tiefem Schwerpunkt.
Daher ist sie gut ausbalanciert und ermöglicht es dem Pferd, mit gewölbter Oberlinie und in Selbsthaltung zu laufen.



Was ist Losgelassenheit?

Ich definiere Losgelassenheit als Einsatz allein der Muskulatur, die für die jeweilige ausgeführte Bewegung benötigt wird. Der jeweils benötigte Muskel spannt sich an, während sein Gegenpielermuskel sich entspannt. Der Begriff ist also nicht gleichzusetzen mit völliger Spannungslosigkeit, sondern eher mit zweckentsprechender, effizienter Muskelarbeit. Dies gilt sowohl für das Pferd als auch für den Reiter.

Die Bedeutung des Reitersitzes

Für den Reiter spielt beim Erreichen dieses Ziels gerade der Sitz eine bedeutende Rolle. Dabei ist primär noch nicht einmal entscheidend, dass der Sitz perfekt ist. Der Reiter muss vor allem seine Balance finden - und zwar sowohl hinsichtlich seines körperlichen Gleichgewichts im Sattel, als auch in Bezug auf seine mentale Verfassung. Denn ein nervlich angespannter Reiter wird nicht zu körperlicher Losgelassenheit finden können und umgekehrt. Auch das Pferd wird unter diesen Voraussetzungen nicht losgelassen laufen, was wiederum das Loslassen des Reiters stark erschwert. Der Teufelskreis hat begonnen!

Um dem Reiter zu einem verbesserten Gleichgewicht (körperlich wie mental) - und in Folge dessen zu mehr Losgelassenheit - verhelfen zu können, muss man Schwierigkeiten zunächst einmal erkennen. Denn manchmal sind es auch scheinbar perfekt sitzende Reiter, die weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, weil der Mangel an Losgelassenheit nicht erkannt und folglich nicht behoben wird.

Luft anhalten und Starren - die größten Feinde der Losgelassenheit

Meine Beobachtungen in zahlreichen Trainingseinheiten mit verschiedensten Schülern haben ergeben, dass bei fehlender oder nicht optimaler Losgelassenheit des Reiters vor allem zwei Symptome zu beobachten sind:
1) Der Reiter atmet sehr flach oder hält sogar die Luft an.
und/oder
2) Der Blick des Reiters ist wie versteinert, er starrt und fokussiert bestimmte Punkte.

Das sind zunächst einmal keine typischen Sitzfehler wie ein steifes Becken, eine eingeknickte Hüfte oder hochgezogene Knie, die sich offensichtlich erkennen lassen.
Jedoch haben sie einen sehr weitreichenden Einfluss auf die Losgelassenheit des Reiters und damit auch auf die des Pferdes.

Atmet der Reiter nicht tief und gleichmäßig, kann er seinen eigenen Körperschwerpunkt nicht weit unten im Körper halten (optimal wäre der Schwerpunkt unterhalb des Bauchnabels), sondern der Schwerpunkt wandert bildlich gesprochen nach oben. Solche Reiter atmen dann nicht mehr bis in den Unterbauch, sondern die Atmung bleibt im Brustkorb stecken. Sichtbar wird das an den leicht hochgezogenen Schultern und in Folge dessen an den angehobenen Händen sowie einer insgesamt eher steifen Körperhaltung. Der Reiter bemüht sich um einen aufrechten, korrekten Sitz, das Gesamtbild sieht jedoch nicht harmonisch aus. Je weiter der Schwerpunkt im Reiterkörper sich nach oben verschiebt, umso instabiler wird sein Sitz. Er verliert immer mehr seine Balance, verspannt sich immer weiter und atmet in Folge dessen immer flacher und unregelmäßiger. Dadurch kommt es auch konditionell zu einer raschen Erschöpfung, da der Körper bei flacher Atmung nur ungenügenden mit Sauerstoff versorgt wird. Der Reiter kann nicht mehr effektiv einwirken.

Die Reiterin hält die Luft an und verspannt dadurch im ganzen Körper. Der Schwerpunkt ist zu weit oben, sie kommt nicht mehr zum Sitzen und muss sich über die klemmenden Knie stabilisieren. Das Pferd verliert dadurch selbst seine Losgelassenheit und nimmt als Abwehrreaktion den Kopf hoch.

Unmittelbar damit verbunden ist der Blick des Reiters. Je verspannter er ist, desto starrer und je losgelassener, desto "weicher" wird der Blick. Im von Sally Swift begründeten Centered Riding wird dies mit den Begriffen "harte und sanfte Augen" sehr treffend beschrieben. Als Vergleich für diese harten Augen kann man sich gut ein Raubtier vorstellen, das seine Beute fokussiert und dabei mit jeder Faser seines Körpers angespannt und bereit ist, unmittelbar anzugreifen. Bemerkt die potenzielle Beute den Räuber, ist sie ebenfalls in Alarmbereitschaft. Ein entspannt vor sich hin dösender Löwe wird jedoch eher keine Panikattacke beim Gegenüber auslösen.

Eben dieses mit dem starren Blick verbundene - oft unbewusste - Anspannen des Körpers löst Reaktionen des Pferdes aus. Es wird den Grund der Anspannung des Reiters oftmals in einer potenziellen Gefahrenquelle suchen und aus unerfindlichen Gründen wegspringen oder versuchen zu flüchten, was es bei einem losgelassenen Reiter wahrscheinlich nicht getan hätte. Wegen dieser Fluchtreaktion wird der Reiter noch mehr dazu neigen, die Luft anzuhalten oder mit den Augen zu starren, beispielsweise auf den Pferdehals.

Der Reiter kann diesen Teufelskreis unterbrechen, indem er bewusst versucht, tief in seinen Körper hineinzuatmen und dabei im Kopf einen gleichmäßigen Takt mitzuzählen. Außerdem sollte er versuchen, seinen Blick in die Ferne zu richten, ohne etwas zu fokussieren. Fällt ihm das in der Bewegung schwer, kann es ihm helfen, sein Pferd zunächst in der Mitte der Bahn anzuhalten und ein paar Mal tief durchzuatmen und sich zu sammeln. Meistens antwortet das Pferd kurz darauf mit einem Abschnauben als Zeichen für die sich lösende Anspannung.

Ein wichtiger Vorteil der "sanften Augen" ist es außerdem, dass man dadurch sein Sichtfeld vergrößert. Entgegenkommende Reiter kann man deutlich früher erkennen und stressfreier ausweichen. Zwar ist bei dieser Art des Schauens die Scharfsicht eingeschränkt, da wir immer nur kleine Bereiche des Sichtfeldes fokussieren können. Aber beim Reiten es ist in erster Linie wichtiger zu sehen, DASS und nicht WEM man ausweichen muss.

Welche Rolle spielen Becken und Kiefer des Reiters?

Um eine gute Balance und damit auch Losgelassenheit erreichen zu können, sind für den Reiter noch zwei weitere Aspekte von besonderer Bedeutung:
1) die Mobilität des Beckens
und
2) die Entspannung des Kiefers

Erst eine gute Mobilität des Beckens ermöglicht es dem Reiter, seinen Körper effizient einzusetzen. Dann muss er keine unnötigen Kompensationsbewegungen vornehmen, um auf dem Pferd im Gleichgewicht zu bleiben und in der Bewegung mitgehen zu können.

Darauf hat auch die Kiefermuskulatur direkten Einfluss. Ist diese verspannt, weil der Reiter die Zähne zusammenbeißt, kann auch das Becken nicht optimal loslassen.
Aus demselben Grund zählt das Lösen des Pferdekiefers durch sogenannte Abkauübungen in manchen Reitweisen zur absoluten Basis gymnastischen Pferdetrainings.

Dabei sollten wir uns auch daran erinnern, dass das Pferd häufig den Reiter spiegelt. Es lohnt sich beispielsweise immer, einmal in die eigenen Kiefergelenke hineinzuspüren, wenn das Pferd mit den Zähnen knirscht oder das eigene Becken zu lösen, wenn das Pferd nicht so recht durchschwingen möchte.
Der Reiter kann schon viel bewirken, wenn er leicht seinen Mund öffnet.

Praktische Übungen

Bemerkt der Reiter, dass er im Bereich von Kiefer oder Becken nicht losgelassen ist, können ihm folgende Übungen helfen:

1) Becken-Samba
Die Übung soll dem Reiter erleichtern, im Sattel seine Mitte zu finden, vor allem, wenn er dazu neigt, seitlich in der Hüfte einzuknicken oder mehr zu einer Seite zu sitzen.



Setzen Sie sich dabei zunächst gefühlt mittig in den Sattel. Das Pferd sollte von einem Helfer gehalten werden. Dieser prägt sich die von Ihnen als mittig gefühlte Position ein, ohne Sie zu korrigieren.

Dann bewegen Sie Ihr Becken so weit wie möglich erst zu einer und dann zur anderen Seite des Pferdes. Stellt man sich das Ziffernblatt einer Uhr vor, geht die Bewegung seitlich-abwärts nach 3.00 Uhr und 9.00 Uhr. Das Becken soll dabei deutlich zur jeweiligen Seite abkippen und sich senken. Dabei stabilisieren Sie sich, indem Sie sich mit den Händen vorn am Sattel festhalten. Diese Übung wiederholen Sie mehrmals. Dann suchen Sie die Mitte zwischen diesen beiden Extrempositionen im Sattel. Der Helfer kontrolliert, ob sich eine Sitzverbesserung im Vergleich zum Beginn der Übung eingestellt hat und gibt Ihnen Rückmeldung. Wenn Sie sicherer werden, können Sie die Übung auch auf dem gehenden, geführten Pferd durchführen.

2) Der Embryo und die Titanic
Auch bei dieser Übung geht es darum, seine Mitte zu finden, diesmal aber nicht in seitlicher Ebene, sondern vielmehr in Bezug auf die Streckung des Oberkörpers und die damit verbundene Positionierung des Beckens. Die Hüftgelenke werden durch diese Übung sehr gut gelöst. Optimalerweise wird das Pferd wieder von einem Helfer gehalten und später auch geführt.
Die erste Position gleicht der eines Embryos. Machen Sie sich im Oberkörper so klein und rund wie möglich. Die Arme werden um den Körper geschlungen, der Kopf eingerollt. Die Knie werden leicht angezogen. Dadurch werden die Hüftgelenke stark gewinkelt. Merken Sie sich, wie sich diese Position anfühlt.



Dann machen Sie die genau entgegengesetzte Bewegung. Hier geht es darum, sich maximal zu strecken. Die Arme sind seitlich ausgebreitet, Sie stehen im Sattel weit nach vorne oben auf. Die Beine gehen leicht nach hinten. Der Oberkörper wird nach oben gedehnt. Die Hüftgelenke werden dadurch maximal geöffnet. Das ist übrigens auch eine sehr schöne Übung, um die eigene Balance zu überprüfen!



Wechseln Sie mehrmals zwischen diesen Positionen, nehmen Sie dann wieder im Sattel Platz und versuchen Sie, die Mitte zwischen diesen Positionen einzunehmen.

3) Trab- und Galopp-Stangen
Eine schöne Möglichkeit, um sowohl die zuvor genannte Übung in abgeschwächter Form, als auch die Auswirkung von starren Augen und angehaltener Luft zu fühlen, ist es, wenn der Reiter sein Pferd über Stangen traben und galoppieren lässt.

Versuchen Sie zunächst die Übung so zu absolvieren, dass Sie vor und nach den Stangen aufrecht im Sattel sitzen, wenn Sie traben (leichttraben) oder galoppieren und in den Entlastungssitz zu gehen, wenn Ihr Pferd die Stangen überwindet. Dabei konzentrieren Sie sich auf eine gleichmäßige Atmung und schauen sie nicht auf die Stangen sondern hinter den Stangen in die Ferne, ohne dabei einen bestimmten Punkt zu fixieren. Prägen Sie sich ein, wie flüssig Ihr Pferd über die Stangen geht und wie geschmeidig Sie sich dabei fühlen.

Dann wiederholen Sie die Übung und halten Sie kurz vor der ersten Stange die Luft an und fixieren die Mitte der Stange auf dem Boden. Achten Sie darauf wie Ihr Pferd reagiert und ob es genauso flüssig die Stangen überquert, wie vorher. Was ist mit Ihrer Losgelassenheit passiert?

4) Zungengymnastik
Eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Übung möchte ich zum Schluss vorstellen. Ungewöhnlich deswegen, da sie so gar nicht den gängigen Sitzübungen entspricht und auf den ersten Blick etwas albern wirkt. Aber der Effekt ist erstaunlich und man kann sie relativ diskret ausführen.

Reiten Sie Ihr Pferd, zunächst im Schritt, später auch im Trab und Galopp. Fühlen Sie, wie beweglich Ihr Becken ist. Dann "schreiben" Sie mit Ihrer Zunge langsam das Alphabet an Ihren Gaumen. Wenn Sie fertig sind, überprüfen Sie erneut die Mobilität Ihres Beckens. Sie werden erstaunt sein!